Selbständige Leistungen als Eingruppierungsmerkmal
„Keiner sagt mir, was ich als nächstes tun soll“?
Mit Urteil vom 18. Februar 2025 – 6 SLa 231/24 hat sich das LAG Nürnberg mit dem Thema der selbständigen Leistungen als Eingruppierungsmerkmal befasst. Betroffen war eine Kodierassistenz im Medizincontrolling, die eine Höhergruppierung anstrebte – allerdings ohne Erfolg. Auf das Arbeitsverhältnis fand der TVöD-K (VKA) Anwendung.
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Die Klägerin
- kodierte Diagnosen und Prozeduren nach ICD‑10‑GM bzw. OPS
- ermittelte DRG-Fallpauschalen
- prüfte Dokumentationen auf Vollständigkeit und Plausibilität
- koordinierte mit Ärzten und Pflegepersonal sowie dem MD
- aktualisierte laufende Fälle mit Revisionssoftware (z. B. „MOMO“).
Das Gericht fasste die alle auszuübenden Tätigkeiten zu einem einheitlichen Arbeitsvorgang der Kodierung und Dokumentation zusammen – da alle Einzelschritte untrennbar auf das Ziel ausgerichtet waren, und zwar die vollständige und korrekte Kodierung für Abrechnungszwecke.
Das Gericht bejahte das Vorliegen gründlicher sowie gründlich vielseitiger Fachkenntnisse. Diese ergaben sich u. a. aus:
- der Notwendigkeit, medizinische Diagnosen und Prozeduren fachlich einzuordnen
- dem sicheren Umgang mit komplexen Klassifikationssystemen (ICD, OPS)
- der Fähigkeit, ärztliche Dokumentationen zu verstehen und ggf. zu hinterfragen
- der Kenntnis der abrechnungsrechtlichen Vorgaben nach DRG-System
- der Kenntnis von medizinischem Fachvokabular
Diese Fachkenntnisse stellen die Grundlage dar, auf der überhaupt eine Prüfung des Tätigkeitsmerkmals der „selbständige Leistungen“ in Betracht kommt.
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In den Entgeltordnungen werden die selbständigen Leistungen wie folgt definiert:
„Selbständige Leistungen erfordern ein den vorausgesetzten Fachkenntnissen entsprechendes selbständiges Erarbeiten eines Ergebnisses unter Entwicklung einer eigenen geistigen Initiative; eine leichte geistige Arbeit kann diese Anforderung nicht erfüllen.“
Das LAG Nürnberg führt dazu aus: „Dabei geht es nicht um „selbständig arbeiten“ im Sinne von ohne Anleitung, sondern um eine Gedankenarbeit, die einen echten Gestaltungs- oder Entscheidungsspielraum eröffnet. Der Mitarbeitende muss Informationen verknüpfen, abwägen und zu einer eigenen Entscheidung oder Lösung kommen. Eine selbstständige Leistung im Tarifsinn ist dann anzunehmen, wenn eine Gedankenarbeit erbracht wird, die im Rahmen der für die Entgeltgruppe vorausgesetzten Fachkenntnisse hinsichtlich des einzuschlagenden Weges und insbesondere hinsichtlich des zu findenden Ergebnisses eine eigene Beurteilung und eine eigene Entschließung erfordert. Kennzeichnend für selbstständige Leistungen im tariflichen Sinn ist ein, wie auch immer, gearteter Ermessens-, Entscheidungs-, Gestaltungs- oder Beurteilungsspielraum bei der Erarbeitung eines Arbeitsergebnisses. Es werden Abwägungsprozesse verlangt, in deren Rahmen Anforderungen an das Überlegungsvermögen gestellt werden. Dabei müssen für eine Entscheidung unterschiedliche Informationen verknüpft und untereinander abgewogen werden. Dass diese Abwägungsprozesse bei entsprechender Routine durchaus schnell ablaufen können, steht nicht entgegen. Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, dass allein der Umstand, dass es sich bei der Ausübung der Tätigkeit um einen Normvollzug handelt, dem Vorliegen selbständiger Leistungen nicht entgegensteht. Das gilt insbesondere, wenn die zu vollziehenden Normen unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten und/oder Ermessensspielräume eröffnen. Etwas anderes kann allerdings gelten, wenn es für den Vollzug detaillierte Handlungsanweisungen gibt, die die Beurteilung und Ermessensspielräume maßgebend einschränken und die erforderlichen Abwägungsprozesse im Wesentlichen vorwegnehmen.“
Das LAG stellte fest, dass bei der Kodiertätigkeit kein Entscheidungs- oder Gestaltungsspielraum besteht – die Vorgehensweise sei durch verbindliche Kodierregeln, Abrechnungsrichtlinien und ärztliche Anweisungen vorgegeben.
Nach Ansicht des Gerichts erfolgt die Kodierung strikt nach den DKR (Deutsche Kodierrichtlinien), den DRG und den dafür vorgesehenen Codes. Diese Vorgaben enthalten klare Fallbeispiele, Unterkategorien und Kriterien – der Kodierassistenz verbleibt kein eigener Beurteilungsspielraum hinsichtlich Diagnose oder Aufwand.
Diagnose und Aufwand stehen in einem festen Zusammenhang: Entweder ergibt sich der Aufwand aus der Diagnose oder umgekehrt. Auch wenn im Zweifel der höhere Aufwand kodiert wird, muss dies zwingend durch die zugrunde liegende Diagnose gedeckt sein. Die Hauptdiagnose bestimmt sich nach der Diagnose mit dem größten Aufwand – Abweichungen sind nicht möglich.
Zudem liegt die fachliche Verantwortung für die Dokumentation und Festlegung der Hauptdiagnose beim behandelnden Arzt. Rückfragen der Kodierassistenz dienen ausschließlich der Klärung oder Ergänzung fehlender Angaben, führen aber nicht zu einem eigenen Abwägungsprozess zwischen mehreren möglichen Lösungen.
Damit fehlt der für „selbständige Leistungen“ erforderliche Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum. Selbst wenn die Arbeit eigenständig ausgeführt wird, reicht dies nicht aus – es bedarf einer inhaltlichen Entscheidung unter Abwägung verschiedener Informationen, die hier nicht gegeben ist.
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Fazit für die Praxis
Selbst bei Tätigkeiten mit anspruchsvollen Fachkenntnissen gilt: Eine Eingruppierung in die EG 7, 8 oder 9a setzt nicht nur Wissen, sondern auch echten eigenständigen Entscheidungsspielraum voraus. Fehlt dieser – wie bei der Kodierassistenz – sind selbständige Leistungen im Tarifsinne nicht gegeben.
(Artikel erstellt am 02.09.2025)
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Die Verfasserin
RAin Britta Ruiters
Rechtsanwältin und PIW-Trainerin
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